wer bin ich ? ich heiße Dieter

Montag, 23. Januar 2012

mit Udo einkaufen


Udo suchte verzweifelt. Geschnetzeltes Natur, Paprika-Geschnetzeltes, Geschnetzeltes mit Broccoli und Möhren. Die Auswahl an der  Fleischtheke im Supermarkt war riesig, doch Gyros war nicht zu sehen. Und kurz bevor er an der Reihe gewesen wäre und von der Verkäuferin hätte bedient werden können, wich er entsetzt zurück.

„Gyros ???“ stammelte er vor sich hin.
Weil kein Gyros an der Fleischtheke zu sehen war, ergriff er die Flucht zwischen die Regalreihen des Supermarktes, blickte entgeistert in die Leere uns wusste nicht, was er machen sollte.

Udo, mein geistig behinderter Schwager, war mit meiner Frau einkaufen. Am Wochenende wollte seine Betreuerin im Behindertenwohnheim mit ihm Gyros mit Reis und Zatziki kochen. Dass er selbstständig einkaufen und kochen sollte, war Bestandteil des Projektes, dass er ins das betreute Wohnen überführt werden sollte.

Es sollte das zweite Wochenende sein, an dem das Kochen geübt werden sollte. Am Wochenende davor waren Nudeln mit Gehacktessoße gekocht worden, wobei sich die Zubereitung ominös anhörte. Wie denn die Gehacktessoße gemacht worden sei, hatten wir nachgefasst. Mit Öl und Salz, hatte Udo geantwortet. Brockenweise hatten wir die weitere Rezeptur aus ihm herausbekommen. Mit Pulver (wahrscheinlich meinte er eine Gewürzmischung), hatte Udo danach aus seiner Erinnerung herausgekramt, dazu Tomatenstücke. Wir hatten unsere Zweifel, ob er jemals in der Lage wäre, so etwas selbstständig zu kochen und zuvor die Zutaten einzukaufen.

Zwischen den Regalreihen musste meine Frau ihn wieder einfangen, um sich zur Fleischtheke zurück zu bewegen. Und siehe da: ein Stück weiter links, unterbrochen von einer Lage von Schnitzeln und Koteletten, wurde auch Gyros angeboten.

„Wieviel ?“ fragte die Verkäuferin.
„Für eine Person und zwei Tage“ half ihm meine Frau.

Beim nächsten Einkauf, dem Reis, vermied meine Frau eine größere Entscheidungsaktion, indem eine 500 g-Packung einer Billigmarke ausgewählt wurde, die unserer Familie zu Haus gut schmeckte. Beim Reis drängten sich rasch die nächsten Fragen auf. Schmeckte so etwas, abgekochter Reis ohne jegliche Soße dazu ? Weiter: würde er in der Lage sein, die Menge Reis richtig abzumessen ? Seitdem ich ihn kannte, hatte er ständig abgebaut. Zählen, rechnen, das beherrschte er früher, heute war kaum noch etwas davon hängen geblieben. Lesen, schreiben, diese Kenntnisse waren vollständig verschwunden, so dass er kein einziges Rezept lesen und verstehen konnte.

Das Behindertenwohnheim sah dies locker. In dem Termin, an dem meine Frau und mein Schwiegervater kurz vor Weihnachten teilgenommen hatten, war festgestellt worden, dass das betreute Wohnen momentan kein Thema sei, dass aber mittelfristig über den Hilfeplan die Ausgliederung ins betreute Wohnen angestrebt wird. Man trifft sich sozusagen in der Mitte. Jenseits von irgendwelchem Perfektionsdenken, reichen vielleicht 60-70% an Qualität aus, was Udo beisteuert. Beim Rest hilft die Betreuung, außerdem geht das Wohnheim von Lerneffekten aus.

Zatziki war beim Einkaufen an der Reihe. Da musste meine Frau selber suchen, denn in unserer Familie mochte niemand Zatziki. Und selbst bei Udo erinnerten wir uns, dass er über Pfingsten im Legoland aus einem Baguette-Brötchen nur die Ritterwurst gegessen hatte, weil ihm Zatziki und Krautsalat nicht geschmeckt hatten.

Es gab Packungsgrößen mit 125 g und 250 g und eine Billigmarke und eine teure Marke und meine Frau konnte ihm nichts sagen, weil wir kein Zatziki aßen.
„Überlegen ...“
„Überlegen …“
Wenn meine Frau nicht irgendeine Packung gegriffen hätte, hätte er wahrscheinlich in Tagen dort noch gestanden.

An der Sinnhaftigkeit, mit ihm kochen zu üben, werden wir nie zweifeln. Er wird wohl auch lernen können, ein, zwei oder drei Gerichte kochen zu können, wenn dies in endlosen Lernschleifen mit ihm geübt wird. Nur: Nudeln mit Gehacktessoße und dergleichen können kein Standard für eine ausgewogene Ernährung sein. Da muss man ihm noch einiges mehr beibringen. Bei seinen Freunden, die aus dem Behindertenwohnheim bereits in das betreute Wohnen ausgelagert worden sind, läuft dies übrigens so, dass diese meistens am Wochenende bei ihren Eltern essen und eher in Ausnahmefällen selbst kochen.

Zur Kasse, bezahlen.

6,76 € zeigte die Kasse an. Udo kramte in seiner Geldbörse herum und zückte einen 5 €-Schein. Lange Zeit tat sich nichts, bis die Kassiererin ihn bedröppelt anschaute. Dann verging wieder eine gewisse Zeit, bis Udo begriff und der Kassiererin einen weiteren 5 €-Schein gab. Sein Portemonnaie quoll voller Kleingeld über, nachdem er das Wechselgeld zurückerhalten hatte. Geldscheine, die kann Udo noch mit Mühe und Not unterscheiden, aber beim Kleingeld, da hört es auf.

Betreutes Wohnen, wie soll das funktionieren ? Wir sehen das effektiv nicht, dass Udo einen solchen Sprung in die Selbstständigkeit schaffen könnte. Leider ist das Thema bitterernst, weil die einzelnen Wohnheime Zielvereinbarungen mit den Landschaftsverbänden über die Ausgliederung ins betreute Wohnen abgeschlossen haben – das haben wir im Internet recherchiert. Und weil davon Zahlungen abhängen, die die Wohnheime bekommen, werden diese alles tun, so viele Behinderte wie möglich in das betreute Wohnen zu überführen. Wenn wir Pech haben, auch Udo.

2 Kommentare:

  1. Ich treffe auch häufig Behinderte die bei uns im Peyy und Netto einkaufen, da wir im Ort ein großes Zentrum haben mit Heim.
    Das Einkaufen klappt bei vielen ganz gut, manche gehen auch allein, ohne Betreuung. Kann sein dass sie schon einen Stufe weiter sind.
    Hier haben sie natürlich einen großen Vorteil, es ist ein relativ kleiner Ort und die Kassiererinen helfen gern, weil man sich, zumindest vom Sehen, kennt.
    Das ist schon ein Problem, welches viel Kraft für die Lösung kosten wird, wenn ich Deine Zeilen lese. Ich wünsche Euch, dass Euch der Mut nicht verlässt.
    LG Ulrike

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  2. Allein Udos Einkaufsgeschichte stimmt mich nachdenklich und auch ein bisschen traurig. Wie du das beschreibst, kann betreutes Wohnen nicht klappen. Eine gewisse Selbständigkeit ist ganz, ganz doll wichtig - aber es muss schon sicher sein, dass die Bewohner dort auch nicht überfordert sind und werden. Schön, dass Udo euch an der Seite hat und wünsche euch allen, dass ihr euren Kampfgeist nicht verliert; vor allem der Udo!

    Alles Liebe, Josie

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