Udo suchte verzweifelt. Geschnetzeltes
Natur, Paprika-Geschnetzeltes, Geschnetzeltes mit Broccoli und Möhren. Die
Auswahl an der Fleischtheke im
Supermarkt war riesig, doch Gyros war nicht zu sehen. Und kurz bevor er an der
Reihe gewesen wäre und von der Verkäuferin hätte bedient werden können, wich er
entsetzt zurück.
„Gyros ???“ stammelte er vor
sich hin.
Weil kein Gyros an der
Fleischtheke zu sehen war, ergriff er die Flucht zwischen die Regalreihen des
Supermarktes, blickte entgeistert in die Leere uns wusste nicht, was er machen
sollte.
Udo, mein geistig behinderter
Schwager, war mit meiner Frau einkaufen. Am Wochenende wollte seine Betreuerin
im Behindertenwohnheim mit ihm Gyros mit Reis und Zatziki kochen. Dass er
selbstständig einkaufen und kochen sollte, war Bestandteil des Projektes, dass
er ins das betreute Wohnen überführt werden sollte.
Es sollte das zweite
Wochenende sein, an dem das Kochen geübt werden sollte. Am Wochenende davor
waren Nudeln mit Gehacktessoße gekocht worden, wobei sich die Zubereitung ominös
anhörte. Wie denn die Gehacktessoße gemacht worden sei, hatten wir nachgefasst. Mit
Öl und Salz, hatte Udo geantwortet. Brockenweise hatten wir die weitere
Rezeptur aus ihm herausbekommen. Mit Pulver (wahrscheinlich meinte er eine Gewürzmischung), hatte Udo danach aus seiner Erinnerung
herausgekramt, dazu Tomatenstücke. Wir hatten unsere Zweifel, ob er jemals in
der Lage wäre, so etwas selbstständig zu kochen und zuvor die Zutaten
einzukaufen.
Zwischen den Regalreihen
musste meine Frau ihn wieder einfangen, um sich zur Fleischtheke zurück zu
bewegen. Und siehe da: ein Stück weiter links, unterbrochen von einer Lage von
Schnitzeln und Koteletten, wurde auch Gyros angeboten.
„Wieviel ?“ fragte die
Verkäuferin.
„Für eine Person und zwei
Tage“ half ihm meine Frau.
Beim nächsten Einkauf, dem
Reis, vermied meine Frau eine größere Entscheidungsaktion, indem eine 500
g-Packung einer Billigmarke ausgewählt wurde, die unserer Familie zu Haus gut
schmeckte. Beim Reis drängten sich rasch die nächsten Fragen auf. Schmeckte so
etwas, abgekochter Reis ohne jegliche Soße dazu ? Weiter: würde er in der Lage
sein, die Menge Reis richtig abzumessen ? Seitdem ich ihn kannte, hatte er
ständig abgebaut. Zählen, rechnen, das beherrschte er früher, heute war kaum
noch etwas davon hängen geblieben. Lesen, schreiben, diese Kenntnisse waren
vollständig verschwunden, so dass er kein einziges Rezept lesen und verstehen
konnte.
Das Behindertenwohnheim sah
dies locker. In dem Termin, an dem meine Frau und mein Schwiegervater kurz vor
Weihnachten teilgenommen hatten, war festgestellt worden, dass das betreute
Wohnen momentan kein Thema sei, dass aber mittelfristig über den Hilfeplan die
Ausgliederung ins betreute Wohnen angestrebt wird. Man trifft sich sozusagen in
der Mitte. Jenseits von irgendwelchem Perfektionsdenken, reichen vielleicht 60-70%
an Qualität aus, was Udo beisteuert. Beim Rest hilft die Betreuung, außerdem geht das Wohnheim von
Lerneffekten aus.
Zatziki war beim Einkaufen an
der Reihe. Da musste meine Frau selber suchen, denn in unserer Familie mochte
niemand Zatziki. Und selbst bei Udo erinnerten wir uns, dass er über Pfingsten
im Legoland aus einem Baguette-Brötchen nur die Ritterwurst gegessen hatte,
weil ihm Zatziki und Krautsalat nicht geschmeckt hatten.
Es gab Packungsgrößen mit 125
g und 250 g und eine Billigmarke und eine teure Marke und meine Frau konnte ihm
nichts sagen, weil wir kein Zatziki aßen.
„Überlegen ...“
„Überlegen …“
Wenn meine Frau nicht irgendeine
Packung gegriffen hätte, hätte er wahrscheinlich in Tagen dort noch gestanden.
An der Sinnhaftigkeit, mit
ihm kochen zu üben, werden wir nie zweifeln. Er wird wohl auch lernen können,
ein, zwei oder drei Gerichte kochen zu können, wenn dies in endlosen Lernschleifen
mit ihm geübt wird. Nur: Nudeln mit Gehacktessoße und dergleichen können kein
Standard für eine ausgewogene Ernährung sein. Da muss man ihm noch einiges mehr
beibringen. Bei seinen Freunden, die aus dem Behindertenwohnheim bereits in das
betreute Wohnen ausgelagert worden sind, läuft dies übrigens so, dass diese
meistens am Wochenende bei ihren Eltern essen und eher in Ausnahmefällen selbst
kochen.
Zur Kasse, bezahlen.
6,76 € zeigte die Kasse an.
Udo kramte in seiner Geldbörse herum und zückte einen 5 €-Schein. Lange Zeit
tat sich nichts, bis die Kassiererin ihn bedröppelt anschaute. Dann verging
wieder eine gewisse Zeit, bis Udo begriff und der Kassiererin einen weiteren 5
€-Schein gab. Sein Portemonnaie quoll voller Kleingeld über, nachdem er das
Wechselgeld zurückerhalten hatte. Geldscheine, die kann Udo noch mit Mühe und
Not unterscheiden, aber beim Kleingeld, da hört es auf.
Betreutes Wohnen, wie soll
das funktionieren ? Wir sehen das effektiv nicht, dass Udo einen solchen Sprung
in die Selbstständigkeit schaffen könnte. Leider ist das Thema bitterernst, weil
die einzelnen Wohnheime Zielvereinbarungen mit den Landschaftsverbänden über
die Ausgliederung ins betreute Wohnen abgeschlossen haben – das haben wir im
Internet recherchiert. Und weil davon Zahlungen abhängen, die die Wohnheime
bekommen, werden diese alles tun, so viele Behinderte wie möglich in das
betreute Wohnen zu überführen. Wenn wir Pech haben, auch Udo.
Ich treffe auch häufig Behinderte die bei uns im Peyy und Netto einkaufen, da wir im Ort ein großes Zentrum haben mit Heim.
AntwortenLöschenDas Einkaufen klappt bei vielen ganz gut, manche gehen auch allein, ohne Betreuung. Kann sein dass sie schon einen Stufe weiter sind.
Hier haben sie natürlich einen großen Vorteil, es ist ein relativ kleiner Ort und die Kassiererinen helfen gern, weil man sich, zumindest vom Sehen, kennt.
Das ist schon ein Problem, welches viel Kraft für die Lösung kosten wird, wenn ich Deine Zeilen lese. Ich wünsche Euch, dass Euch der Mut nicht verlässt.
LG Ulrike
Allein Udos Einkaufsgeschichte stimmt mich nachdenklich und auch ein bisschen traurig. Wie du das beschreibst, kann betreutes Wohnen nicht klappen. Eine gewisse Selbständigkeit ist ganz, ganz doll wichtig - aber es muss schon sicher sein, dass die Bewohner dort auch nicht überfordert sind und werden. Schön, dass Udo euch an der Seite hat und wünsche euch allen, dass ihr euren Kampfgeist nicht verliert; vor allem der Udo!
AntwortenLöschenAlles Liebe, Josie