Das Buch „Wellenschlag“ von Georges
Simenon war eines meiner Weihnachtsgeschenke, denn ich habe mit viel Begeisterung
mittlerweile 10 Simenons verschlungen. Dabei interessieren mich mehr die
Non-Maigret-Romane, für die Simenon etwas weniger bekannt ist.
In einer einfachen,
unkomplizierten Sprache beschreibt Simenon mit reichlich psychologischem
Tiefsinn die Alltagswelt der kleinen Leute. So auch hier: „Wellenschlag“ ist mit seinen 163 Seiten als Bettlektüre an
einigen Abenden flüssig zu lesen – oder wie bei mir während der Busfahrt.
Die Geschichte ist eine
unglaubliche Tragödie. Jean ist Waisenkind und lebt bei seinen beiden Tanten
auf dem Gut Wellenschlag in Marsilly in der Nähe von La Rochelle an der französischen
Atlantikküste. Jean hat Marthe, seine Freundin, geschwängert. Eigenmächtig veranlassen
seine beiden Tanten, dass Marthe abtreibt, ohne dass Jean bzw. ihr Vater davon
etwas wissen. Nach der Abtreibung kommt es zu Komplikationen, und eigentlich
könnte nur eine Totaloperation helfen, die 10.000 Francs kostet und für die das
Geld fehlt. Marthes Blutungen werden immer schlimmer, so dass sie schließlich
stirbt. Zuvor hatte Jean Marthe geheiratet.
Der Roman spielt 1938 in
einer Steinzeit der Telekommunikation, ohne größeres Telefonnetz, ohne
Mobilkfunkkommunikation, ohne Internet oder e-Mail-Verkehr.
Was Marthes Tod betrifft, hätten
auch aus heutiger Sicht Krankenkassen in einem solchen Fall die Kosten für eine
Totaloperation nicht übernommen.
In dieser Steinzeit der
Telekommunikation werden Informationen weitestgehend im Café de la Poste in
Marsilly ausgetauscht. Dort finden sich Charaktertypen mit allen Haken und
Ösen: Jeans Schwiegervater Sarlat, der Schulden hat; Justin, der wegen diverser
Liebschaften als Bürgermeister nicht wiedergewählt worden ist; der Elsässer Kraut,
der sich als Gelegenheitsarbeiter durchschlägt und außer Essen und Trinken
keinerlei anderen Aktivitäten nachgeht; Jourin, der nach Belieben fremdgeht und
dennoch verheiratet ist. Dazu kommen Metzger, Maurer, Hufschmied, Lehrer, also
alles, was sich so im Dorf herumtreibt. Dementsprechend stark wird das Café frequentiert,
wobei jede Menge gesoffen wird, Karten gespielt wird und endlos über Politik
herum palavert wird.
Das ist eine Welt, in die
Jean nicht hineinfindet, weil er mit solchen derben Charaktertypen nicht
umgehen kann. Anstatt dessen ist er in seinem Alltag gefangen, der auf Gut
Wellenschlag stattfindet. Jeden Tag erntet er von morgens früh bis abends spät Austern,
indem er bei einem niedrigen Gezeitenstand während der Ebbe die Austern mit
Netzen aus dem Meer fischt. Umspült von Wassermassen, werden Karren durch
Matsch und Schlick gezogen, was eine fürchterliche Knochenarbeit ist.
Seine beiden Tanten haben ein
Netz um ihn gesponnen, dem er letztlich nicht entweichen kann. Ihr
Immobilienbesitz ist groß, denn außer dem Gut Wellenschlag, welche 30 ha groß
ist, besitzen sie noch zwei Mietshäuser. Sämtliche Gebäudeinfrastruktur und den
Fuhrpark stellen sie zur Verfügung. Marthe lebt bei den beiden Tanten, die
täglich die beiden bekochen und sich um Marthes schlechter werdende Gesundheit kümmern.
Sein Schwiegervater Sarlat
öffnet ihm im Café de la Poste die Augen, indem er die beiden Tanten als „Drachen“
bezeichnet. Doch Jean kann damit nicht umgehen, er will Sarlat verprügeln und
wird prompt aus dem Café geschmissen. Anstatt dessen arrangiert er sich mit
seinen Tanten und lässt sie weiter gewähren.
Als seine Frau stirbt, trauert
Jean nur für eine kurze Zeit. Er lebt bei seinen Tanten in seiner engstirnigen
Welt weiter und fühlt sich fortan nicht als Witwer, sondern wird als
Junggeselle alt.
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