In den Gängen hatte sich der Mief der letzten zwanzig Jahre
angesammelt. Ich befand mich im Bürgerbüro, das war vor etwas mehr wie einem
Jahr. Das Viereck des Gangs zerfloß ins Ziellose, die weiß gestrichenen Wände
ödeten mich an, einfallslos strich die graue Maserung über die Steinfliesen, die
Atmosphäre war steril wie in einem Krankenhaus. Die Sitzbänke waren in einem
einfachen Stil gehalten, hellbraunes, abgewetztes Holz, ausdruckslos, ich kam
mir vor wie in einem Wartezimmer einer Zahnarztpraxis. Zwischen dem Knäuel von
anderen Menschen, die ihr Anliegen in der Stadtverwaltung erledigen wollten, hatte
ich einen freien Sitzplatz gefunden. Die rote Lichtanzeige über den drei besetzten
Bürgerbüros signalisierten, dass gewartet werden musste. Auf dem Türschild las
ich „An- und Abmeldungen, Pässe und Ausweise, Melderegister,
Führungszeugnis, Beglaubigungen, Gewerberegisterauskünfte, Führerscheinangelegenheiten.“
Nach einer Wartezeit, die ich länger vermutet
hatte, trat ich ein. Der Mitarbeiter, der mein Anliegen entgegennahm, passte
nicht ganz in diese steife und erstarrte Bürolandschaft hinein: lässig schlängelte
sich der Kragen seines Poloshirts um seinen Hals, seine schwarze Jeanshose saß
tadellos. Über dem schmalen Streifen seiner Koteletten reichte sein struppiges
Haar über seine Ohren. Ein braun umrandeter Bilderrahmen mit seiner Frau und
seinen beiden Töchtern verschönerte den Schreibtisch des Mittdreißigers.
Ein Gang zum Wandschrank, ein Griff in eine
Heftmappe, den Antrag auf das begleitete Fahren unseres Sohnes war ich
losgeworden, die Antragsunterlagen konnten an die zuständige Führerscheinstelle
weiter gereicht werden.
Wenn ich mich an die Zeiten zurück erinnere,
dass ich selbst in einer Behörde gearbeitet habe (es war nicht die
Stadtverwaltung), ereilen mich Wahnvorstellungen. Das war bis ungefähr Ende
der 80er Jahre.
Eine zeitlang war ich damals in der
Hausverwaltung tätig. Wir durften kaum etwas selber machen, sondern bekamen
alles vorgeschrieben. „DADASt“ hieß ein merkwürdiges Kürzel, im Langtext war
dies die „Dienstanweisung für die Dienstausstattung“. Da bekam man bis ins kleinste
Detail bis auf Marke und Typ vorgeschrieben, welche Schreibtische,
Kleiderschränke, Wandschränke, Garderobenständer oder Papierkörbe in den Büros
zu stehen hatten, aus welchem Material der Fußboden zu verlegen ist oder in
welchem Jahresabstand Wände neu gestrichen werden dürfen oder wie der Anstrich
genau auszusehen hat.
Das Malheur ging noch weiter: nicht nur
wurde einem alles vorgeschrieben, sondern man bekam für das, was man rund um
die Gebäude bezahlen musste, viel zu wenig Geld. Beispielsweise Energie. Über
mehrere Jahre erlebte ich, dass wir für Strom, Gas, Heizöl, Wasser viel zu
wenig Budget bekamen. Eigentlich hätten ab etwa September alle Lichter ausgehen
müssen, weil wir keinen Strom mehr bezahlen konnten. Oder ab dem Herbst hätten
wir frieren müssen, weil wir unsere Gasrechnungen nicht mehr bezahlen konnten.
Nach mehrfachem Hickhack und Hin und Her bekamen wir dann zusätzliche Geldmittel. Aber ohne
Lerneffekte, denn im Folgejahr bekamen wir erneut zu wenig Geld, und jedes Jahr
wiederholte sich dieses Spielchen, dass wir um Geld betteln mussten.
Das schlimmste war, dass die meisten es aufgegeben
hatten, selbst zu denken, weil alles von oben vorgeschrieben wurde. Die Intelligenz
beschränkte sich darauf zu wissen, was wo steht. Gab es einen solchen seltenen Fall,
dass irgendwo etwas nicht geregelt war, musste jemand es nach oben reichen,
damit jemand anders es regelt. Der Versuch, selbst zu denken, wäre ohnehin
bestraft worden: wenn man es versuchte, kam es stets so, dass von oben
anders entschieden wurde, eigene Denkansätze wanderten früher oder später in
den Mülleimer.
Ämter und Amtsbezeichnungen erhielten in
diesem Umfeld besondere Aufmerksamkeit. In Frühstücksrunden oder Gesprächen
bewegten diese Themen alle: wie der Planstellenkegel aussieht, wie die
Arbeitsplätze bewertet werden, wann wegen Zurruhesetzung welche Arbeitsplätze
frei werden, welches davon Beförderungsdienstposten sind, wann mit
Beförderungen zu rechnen ist. An jedem Türschild prangerten die
Amtsbezeichnungen, und wenn man wusste, wie alt der Kollege war und welchen
Familienstand er hatte, dann kannte aufgrund der Besoldungstabellen des
öffentlichen Dienstes jeder sein Gehalt.
Es war schwer, sich diesem Trend zu
entziehen, einzurosten oder dass das eigene Denken in bestimmte Bahnen gelenkt
wurde. Der Kreativität beraubt, gab es sogar Kollegen, die zum Alkoholiker geworden waren.
In unserem Freundeskreis haben wir auch
Bekannte, die in einer Behörde arbeiten. Wahrscheinlich sind sie dazu
übergangen, im Dienst das Denken den Pferden zu überlassen und sich nach
Feierabend selbst zu verwirklichen. Möglicherweise haben auch die
Ermessensspielräume im Zeitverlauf zugenommen, so dass eigenes Denken mehr
gefragt ist. Zurück gesprungen zu unserer Stadtverwaltung, stelle ich mir es
trotzdem schwierig vor, Bereiche wie Personalausweise oder Meldewesen
mit spannenden Aufgaben anzureichern. Diese behördentypischen Bereiche sind wohl
immer noch so, wie ich es anderswo bis Anfang der 90er Jahre kennengelernt
habe: ablegen, reinschieben, weg damit, Routinekram. Staatliche Aufgaben, ohne
sich damit identifizieren zu können.
Aus eigener Erfahrung habe ich einen
Lichtblick erlebt: das Finanzamt. Die haben bei uns auch ein solches Bürgerbüro,
und die Kollegen vom Finanzamt sind fit und helfen, wo sie können. Anders wie
bei Personalausweisen, ist das Steuerrecht viel dynamischer und auch breiter
gefächert. Das alleinige Wissen, was wo steht, reicht nicht aus. Und ständig
überholt sich dieses Wissen. Die Rechtsprechung kommt kaum nach, sämtliche
Einzelfälle mit detaillierten Regeln zu hinterlegen.
Mit seinen Denkmustern kommt mir das
Finanzamt schon geradezu modern vor.
Du solltest wirklich unter die Schriftsteller gehen. Normalerweise hasse ich "Endlos"-Posts und mache meistens nach dem ersten Absatz Schluss. Ok, vielleicht noch den letzten Abschnitt, damit es ein Ende hat. Aber deine Posts sind immer so gut geschrieben, dass ich tatsächlich bis zum Schluss lese.
AntwortenLöschenDas Nicht-selber-denken-müssen, ja sogar das Nicht-selber-denken-DÜRFEN ist schlimm. Behörden hätten nicht so einen schlechten Ruf (ja meist zu Recht), wenn sie ihren Mitarbeitern mehr Verantwortung für ihr Tun und Lassen und also mehr eigenes Denken zugestehen würden.
AntwortenLöschenAber mal so ganz nebenbei, Wartezimmer bei Zahnärzten sind sehr schick. Da ist IMMER irgendwelche Kunst drin. Ich warte bei meinem nur immer viel zu kurz, weil der ein geniales Bestellsystem hat.
Grüße! N.
Du hast wunderbar den gesamten Behördenbetrieb hier beschrieben. Manchmal tun mir Menschen, die in einem starren System arbeiten, leid, dann wiederum kann ich nicht nachvollziehen, warum wir uns das Leben ob solcher Bürokratie schwer machen.
AntwortenLöschenVieles könnte einfacher, reibungsloser ablaufen.
Ein Beitrag, der zum Nachdenken anregt.
Liebe Grüße
Christa