Es gibt Dinge, die kommen einem vor, als lägen sie eine
Ewigkeit zurück. Neulich in Köln. Zu Fuß über den Alten Markt. Die Baustelle
und der Bauzaun nervten mich, daher wich ich in eine Seitengasse aus. Das
Kopfsteinpflaster war derb, die Gasse schmal, zusammengequetscht zwischen den
hohen Häuserfronten.
Zufälligerweise war ich dort gelandet, wo in den 80er Jahren
das TOM TOM gelegen hatte. Sechs Jahre hatte ich damals in Köln gewohnt.
Mangels Bekanntenkreis und aus Langeweile war ich des öfteren durch die Kölner
Altstadt geschlendert. Das TOM TOM hieß heute Carrousel. Das Schild mit zwei
sich küssenden Männern wies eindeutig darauf hin, dass es sich um ein
Etablissement für Homosexuelle handelte.
1984 war die Kießling-Affäre wie eine Bombe eingeschlagen.
Die ganze Presselandschaft – allen voran der SPIEGEL - stürzte sich auf Kießling und Wörner. Über
Wochen und Monate hinweg war diese Affäre das dominierende Top-Thema.
Dabei erscheint die Kernaussage, was das Wertegefüge der
Gesellschaft vor 28 Jahren betrifft, tatsächlich unglaublich: damals ging es um
Diskriminierung von Homosexuellen. Der gesellschaftliche Umgang mit
Homosexualität stellte sich als steinzeitlich heraus – wobei Gerüchte für eine
solche Diskriminierung bereits ausreichten. Bis in die Politik hinein
arrangiert man sich heutzutage mit der Homosexualität – unser Außenminister
oder der Bürgermeister von Berlin sind lebendige Beispiele.
Was war um die Jahreswende 1983/1984 geschehen ? Gerüchte
kamen auf, dass der Vier-Sterne-General und stellvertretende
NATO-Oberbefehlshaber Günter Kießling homosexuell sei. Angeblich war er in
homosexuellen Kreisen gesehen worden. Daraufhin recherchierte der Militärische
Abschirmdienst (MAD). Auch in dem Lokal TOM TOM in der Kölner Altstadt, in dem
sich damals wie heute die Homosexuellenszene traf. Als dem Wirt ein Foto von Kießling gezeigt
wurde, sagte er aus: „Der Mann war früher öfter hier, vor allem im Sommer. Günter
oder Jürgen nannte er sich, jedenfalls etwas mit Ü, ein Wachmann von der
Bundeswehr.“ Der MAD trug weitere Recherchen zusammen und verdichtete diese zu
dem Gesamtbild, dass Kießling homosexuell sei. Der damalige
Verteidigungsminister Wörner entschied daraufhin, dass Kießling in seiner
ranghohen Position nicht mehr tragbar war, weil er erpressbar sein könnte. Kießling
stritt seine Homosexualität ab. Trotzdem einigten sich die beiden, dass
Kießling ab dem 31. März 1984 in den vorzeitigen Ruhestand gehen sollte.
Die Presse bekam Wind von der Sache, als im Januar 1984 die Verabschiedung
Kießlings durch eine Pressemitteilung kommuniziert werden sollte. Zunächst roch
die Süddeutsche Zeitung, dass irgendetwas faul war. Dann war es der SPIEGEL,
der munitiös die Vorgehensweisen des MAD recherchierte und für Aufklärung
sorgte, wie stümperhaft vorgegangen worden war. Dabei fand die Presselandschaft offene Ohren bei Kießling, der ein Interview nach dem anderen gab und seine
Unschuld beteuerte. Die Zeitungen deckten auf, dass die Recherchen des MAD in
homosexuellen Kreisen nicht belastbar waren dass es keine einzige handfeste
Zeugenaussage gab, die die homosexuelle Kontakte Kießlings beweisen konnten.
Wie ein Kartenhaus fiel die Argumentation Wörners in sich zusammen. Es gab
keine Grundlage für die Versetzung Kießlings in den vorzeitigen Ruhestand.
Für den öffentlichkeitswirksamen Showdown sorgte schließlich
Helmut Kohl. Als klar wurde, wie dürftig die Beweislage war, bot Wörner Kohl
seinen Rücktritt an, doch Kohl lehnte ab. Bei einer Bundespressekonferenz im
Februar 1984 rügte er Wörner ironisch, dass er „aufregende Wochen erlebe, an
die er sich in seinem Leben noch häufig zurückerinnern werde.“ Außerdem
forderte er Wörner auf, Kießling im Rahmen eines großen Zapfenstreiches zu
rehabilitieren.
Dieser große Zapfenstreich – die höchste feierliche
Zeremonie der Bundeswehr – fand im März 1984 in der Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne
in Hessen statt. Kohl hatte Wörner in eine verdrehte Gefühlswelt hinein
geschickt, denn die beiden Männer standen sich Auge in Auge gegenüber und
mussten Haltung bewahren. Zorn, Enttäuschung, Verletzung, Wut – Gefühle mussten
beiseite gelegt werden. Schweigen – es konnte nicht ausgesprochen werden, was
die beiden dachten. Wörner war der Hauptdarsteller in einem absurden Theater,
in dem er sich nicht in Luft auflösen konnte, sondern wortlos durchhalten
musste.
Unverständlich ist bis heute, dass Wörner danach sogar noch
eine weitere Stufe auf der Karriereleiter aufgestiegen ist. 1987 wurde er zum
NATO-Generalsekretär befördert.
In der Kölner Altstadt erinnert heute auf der Häuserwand des
„Carrousel“ eine überdimensionale Schlagzeile an Kießling. Im
Schlagzeilenformat der Bild-Zeitung beteuert Kießling seine nicht homosexuellen
Neigungen. Hingewiesen wird auf ein Interview, in dem er die ganze Wahrheit
sagt. Nachgewiesen wurde nie etwas, Als Jurist hätte Wörner den alten
Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) kennen
müssen.
Das ist interessant! Danke für den Bericht!
AntwortenLöschenLG viella
Ich kannte Herrn Kießling persönlich. Er hat sehr unter diesem Ausgang seiner Karriere gelitten und lebte zurückgezogen bis zu seinem Tod. Er hat öffentlich, selbst in kleinen Kreisen nie wieder von der Geschichte gesprochen und über die handelnden Personen kein schlechtes Wort verloren. Das zeichnet ihn in meinen Augen aus.
AntwortenLöschenHallo Dieter!
AntwortenLöschenDanke für diesen Bericht, das Thema hatte ich völlig vergessen oder damals gar nicht mitbekommen.
Viele Grüße
Elke
Dies Affaire schlug seinerzeit wirklich hohe Wellen. Du hast die Vorgänge hier noch mal wunderbar zusammengetragen. :-)
AntwortenLöschenLiebe Grüße
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