7. Immenstaad
Die Hütten des Dorfes ragten aus dem See heraus. Damit das
Hochwasser sie nicht überschwemmte, baute man sie auf mannshohe Stelzen. Stege
bildeten ein verzweigtes Netz: vom Ufer zu jeder einzelnen Hütte. Die Bewohner
verkehrten mit Einbaumbooten auf dem See. Sie waren Jäger und Sammler,
ernährten sich vom Fischfang. Für Getreideanbau war das unwegsame Gebiet um den
See zu feucht, für Viehhaltung genauso.
So ungefähr war Immenstaad in der Bronzezeit besiedelt
worden, das war vor 2000 Jahren. Freilich: bekannter sind die Pfahlbauten in
Unteruhldingen, die zuletzt zum Weltkulturerbe ernannt worden sind. 1983 wurde
in Immenstaad auch ein Pfahlbaufeld entdeckt, wodurch sich die Indizien
verdichteten, dass die Vorfahren Immenstaads in der Bronzezeit sich genauso
niedergelassen haben, wie man es sonst in Unteruhldingen besichtigen kann.
Urkundlich
erstmals erwähnt wird Immenstaad 1094, als Herzog Welf IV. von Bayern dem
Kloster Weingarten – ungefähr dreißig Kilometer entfernt - bedeutende Güter in
Immenstaad schenkte. Da zu feucht, zu unwegsam, abseits der Handelsrouten,
strategisch unbedeutend, hatten zuvor die Römer einen weiten Bogen um den
Bodensee gemacht. Dies änderte sich, als germanische Volksstämme die römischen
Besatzer aus Mitteleuropa vertrieben. In Süddeutschland waren dies die
Alamannen. Wohl um 600-700 gründeten die Alamannen das heutige Immenstaad, dessen Namen mit
Landestelle (Staad) des Fürsten Immo gedeutet wird.
Von der Bronzezeit über den Verkehr von Lastenseglern im
Mittelalter bis zum heutigen Tourismus hat der See eine zentrale Bedeutung.
Zwischen der Anlegestelle, der Uferpromenade und der Bachstraße, der
Verlängerung der Anlegestelle, spielt sich heutzutage das maßgebliche
Touristenleben ab. Man bummelt, flaniert, ist in Urlaubsstimmung, schaut in
Geschäfte hinein, bevölkert Garten-Cafés, wechselt die Uferperspektiven, um den
See in ständig neuen Variationen zu erleben.
Wenn sich das Kursschiff nähert, knistert es in mir voller
Spannung. Der weiße Anstrich wirft fahle Muster auf die Oberfläche des Sees,
die Umrisse des Schiffes verblassen in der Morgensonne. Ich lese „Bregenz“,
dessen Buchstaben sich scharf am Bug zeichnen. Die Wellen formieren sich
unaufgeregt. Der Wind streichelt das Wasser. Beschaulichkeit spannt sich auf
bis zum Schweizer Seeufer.
Mit dem Schiff den Bodensee erkunden, das bedeutet, vom See
aus die Breitseite an Landschaft kennen zu lernen. Entdeckung der Langsamkeit –
so hatte Traude (Rostrose) einmal formuliert. Oder Entschleunigung – als Gegenbewegung
zu Komplexität, multi-tasking, Technokratie, immer schnelleren Reaktionszeiten.
Später, Richtung Hagnau und Meersburg, kleckert das Seeufer vorbei, im
Zeitlupentempo. Nichts überstürzen. Das Panorama der Landschaft wechselt krass,
doch in Ruhe kann ich mir all die mit Liebe in die Landschaft gezeichneten
Details anschauen.
Als das Schiff zuvor den Immenstaader Anlegesteg verlassen
hat, der mit 100 Metern der längste im gesamten Bodenseeraum ist, lasse ich die
Kulisse von Immenstaad passieren. Vom Schiff aus betrachtet, ist dies vor allem
eine Kulisse aus Ferienhäusern, die dicht an das Seeufer heranrücken und mal
mehr, mal weniger Seeblick erhaschen. Dabei habe ich im Ort gelernt, dass
Immobilien ein lukratives Geschäft sind. Das ist brav, artig, hübsch dekoriert,
alleine die Kirche St. Judokus aus dem 15. Jahrhundert sorgt für eine
historische Umgebung. Der dreieckige Kirchturm überragt den Ort. Die Mauern der
Kirche erstrahlen in einem satten Weiß, so wie die übrigen Hausfassaden.
Dann, kurz vor dem Ortsende, schiebt sich eine Landzunge in
den See hinein. Liegewiesen erstrecken sich bis zu einem gläsernen Kasten
davor: das Aquastaad.
Für mich bedeutet dies Badespaß zu jeder Jahreszeit, bei
Sonnen- und bei Regenwetter, im Sommer wie im Winter, bei Hitze und bei Kälte. In
dieser Badelandschaft haben wir uns alle gerne getummelt. 1983 hat man übrigens
an dieser Stelle im See das Pfahlbautenfeld entdeckt. Steine geleiten die
Badegäste in den See hinein. Baden im Bodensee, das ist ein Stückchen Meer,
welches von den fernen Stränden des Mittelmeers herbei gezaubert wird. Palmen
und Bananenstauden – die Vegetation liegt gar nicht so weit weg vom Mittelmeer.
Doch der Weg in den See ist steinig, die
Sandstrände sind nicht bis hierhin transportiert worden. Meine Füße meckern,
denn bis in den See müssen sie sich über Buckel von Steinen quälen.
Schwimmen, segeln, rudern, wandern, angeln, walken,
Inline-skating, man ist hier aktiv in Immenstaad. Wie anderenorts am Bodensee, ist
Immenstaad von sanftem Tourismus durchdrungen. Klötze von Ferienhaussiedlungen sind
hier nicht zu sehen. Es werden keine Busladungen von Touristen ausgekippt. Massenanziehende
Attraktionen wird man hier vermissen.
Radfahren habe ich bei den Aktivitäten noch nicht aufgezählt,
denn Fahrradfahrer können sich wie im Paradies fühlen. Neben der Schifffahrt
gibt es nicht schöneres, als den See mit dem Fahrrad zu erkunden. Das Netz an
ausgeschilderten Fahrradwegen ist ausgezeichnet. Es gibt einen durchgängigen Radweg, der ab dem
Ortsende durch Weinberge führt. Ab Hagnau begleitet der Fahrradweg sogar das
Seeufer. Wir hatten die Strecke früher einmal bis Überlingen geschafft, ohne
Autoverkehr, auf separaten Radwegen, der See einen Steinwurf entfernt.
Tourismus, Weinbau, Obstanbau, Dornier-Werke, diese Elemente
prägen Immenstaad. Die Umgehungsstraße trennt ungefähr die Domänen des Weinbaus
und des Obstanbaus. Auf einem Apfel- und Weinspazierweg kann man beide Domänen
erkunden. Hinauf auf den Hochberg, das ist ein 454 Meter hoher Aussichtspunkt.
Von
dort aus kann der Blick die Fülle der Landschaft auskosten. Die Schattierungen
der Schönheit entspringen im See, wo die Sonne im Wellenspiel glitzert, die
Schönheit wandert über Weinberge, wo sich Reihen von Rebstöcken über Hügel
schwingen, so weit das Auge reicht. Hinter der Trennlinie der Umgehungsstraße
ergreift die Schönheit die Apfelbäume, wo Ende Juli die ersten Äpfel bereits
geerntet worden sind. Waldstücke runden am Horizont die Gesamtkomposition ab,
wo sie als Zickzacklinie zerlaufen.

Obst vom Bodensee – das ist ein Markenzeichen für die
gesamte Region. Mittwochs Morgens ist Markttag, da wird Obst aus der Gegend
verkauft. Gleich zwei Stände mit dicken, roten Äpfeln, die einen anlachen,
stehen im Zentrum. Ich beiße in die Sorte „Elstar“ hinein. Der Apfel schmeckt
saftig, süß, zerläuft auf der Zunge. Außerdem kann man an vielen Ecken
Hochprozentiges kaufen: Obstler, Himbeergeist oder Kirschwasser. Denn so
mancher Obsthof beherbergt eine Obstbrennerei. Doch da kann ich leider nicht
allzu viel mitreden: bei Bier oder Wein endet meine Leidenschaft für einen
guten Tropfen.

Ein Stück weiter, kurz vor dem Anlegesteg, kommt
südländisches Flair auf. Eine Bühne, auf der Veranstaltungen im Freien
stattfinden. Zugehört habe ich, als die Band „Route 66“ gespielt hatte. Das war
Jazz vom feinsten. Wie „Tuxedo Junction“ von Glenn Miller. Das Grundmotiv des
Orchesters, das auch wenigen Akkorden bestand, zog sich in die Länge durch
Soloeinlagen. Vor allem der Saxophonist pustete fleißig in sein Instrument ein.
Bei den Soloeinlagen war zwischendurch der Keyboarder an der Reihe, später die
Trompete, so ging es reihum, und mit all den Soli und Grundakkorden hätte das
Stück eine Ewigkeit dauern können, ohne jemals langweilig zu werden. Das war
stundenlang Unterhaltung vom feinsten, bis wir irgendwann zurückdrehten in
unsere Ferienwohnung.
An allen Ecken vom Tourismus geprägt, hat Immenstaad keine
so schöne Altstadt wie Meersburg oder Überlingen zu bieten. Aber Immenstaad ist
harmonisch. Fachwerkbauten treten nicht geschlossen auf, sondern als einzelne
Episode. Das älteste Haus, das Haus Michael, wurde 1461 erbaut. 2001 renoviert,
erhielt es 2003 den Denkmalschutzpreis. Weisheiten und Sprüche unter dem Gebälk
regen zum Nachdenken an:
Nicht jeder ist seines Glückes Schmied. Vertrauen entsteht
durch eingehaltene Versprechungen. Vermehren durch teilen. Der Mensch denkt er
lenkt. Respektiere das Ende.
Daneben hauchen weitere Fachwerkbauten dem Ort Leben ein.
Das Schwörerhaus, in dem einst Wein gekeltert wurde, stammt aus dem Jahr 1578.
Besonders schön restauriert wurden im Ortsteil Kippenhausen das Haus Montfort
und das Café Puppenhaus, die beide aus dem 18. Jahrhundert stammen. In Haus
Montfort ist ein kleines Museum untergebracht. Im Café Puppenhaus konnte man bis
vor einigen Jahren ein Puppenmuseum besichtigen.
In der Alten Vogtei, die 1732 erbaut worden war, haben wir
in unserem Urlaub gerne gegessen. In dezenten roten Fliesen führt eine Treppe
hinab. Im Gewölbekeller, der in der Form eines Rundbogens gemauert ist, fühlt
man sich einige Jahrhunderte zurück versetzt. Obschon die Preise ein leicht angehobenes
Niveau haben, ist die Küche hier – wie zum Beispiel auch in dem
gegenüberliegenden Lokal „Zum Hirschen“ – exzellent. Beim Essen bin ich
stock-konserativ-schwäbisch oder badisch: ich esse Käsespätzle oder
Maultaschen. Die Spätzle sind frisch zubereitet, die Zwiebelschmelze ist knusprig,
die Portionen sind üppig. Und ein Müller-Thurgau aus Hagnau oder Meersburg
rundet dieses Essen ausgezeichnet ab.
Hier in Immenstaad haben wir genossen, was es bei uns im
Rheinland nicht gibt: eine regional-typische Küche. Hausgemachte Semmelknödel,
Felchenfilet oder Rinderleberle. Auch die Gastronomie hat uns in den Himmel des
Bodensees emporsteigen lassen.