Sie ließen es sich schmecken. Bei Pizza und Pasta trafen sie
sich beim Italiener um die Ecke. Alte Klassenkameradinnen, waren sie in der
Hauptschule in derselben Klasse gewesen. Sporadisch und spontan hatten sie sich
verabredet, und das letzte Treffen im Winter bei knackig-kalter Kälte lag
anderthalb Jahre zurück. An dem Zweiertisch am Fenster mit dem kreuzförmigen
Rahmen hatten sie es sich gemütlich gemacht. In dem Aquarium vor der Wand
blubberte das Wasser. Da sie sich über 30 Jahre kannten, wussten sie bestens
über den anderen Bescheid.
„Der Kontrollzwang meines Mannes artet immer mehr aus. Er
hat mir verboten, dass ich mich um Angelegenheiten rund ums Haus kümmere.
Versicherungen, Strom, Wasser, Pläne vom Haus hat er im Heizungskeller
eingeschlossen und den Schlüssel verschwinden lassen. Ich habe den Schlüssel
aber gefunden und ihn nachgemacht. “
Die Ehe bestand eigentlich nur noch auf dem Papier. Begonnen
hatte alles, als ihr Mann arbeitslos geworden war. Zur Untätigkeit gezwungen,
tobte er sich in Haus und Garten aus. Dabei stellte er fest, dass seine Welt
nie perfekt genug war. Die Regale hingen nicht haargenau im senkrechten Winkel. Die
Tomatenreihen konnten noch optimaler stehen, um ein Stückchen länger von der
Sonne beschienen zu werden. Die Wandflächen mussten perfekt eben sein, damit
tapeziert werden konnte. Einkaufen, Kochen , Putzen, Waschen, Bügeln, nichts
konnte sie ihm Recht machen. Selbst als er wieder Arbeit gefunden hatte, hörten
seine Anfälle von Tobsucht nicht auf. Gemecker allenthalben, ständiger Streit
um Kleinkram, auf Schritt und Tritt kontrollierte er sie. Nicht mit Fäusten,
sondern verbal, mit Worten prügelte er auf sie ein. Sie sei schlampig, faul, inkompetent,
eine schlechte Mutter, verschwende das Haushaltsgeld. Schrill und kreischend,
redete ihre Stimme dagegen an. Ein Geschrei voller Misstöne, bei dem jeder nur
noch verbal auf den anderen eindrosch.
„Wieso hast du diesen Ekel von Mann nicht längst verlassen
?“
„Vielleicht so ein letztes Stück Anne … „
Etwa sieben Jahre lang dauerte nun dieser Zustand des
gegenseitigen Belauerns. Soweit es zu schaffen war, gingen sie sich aus dem
Weg. Werkbank im Keller, Garten, Bücherecke, Küche, ihr Haus hatte genügend
Raum, um ihr Zusammensein auf das allernötigste zu reduzieren. Dieses Geschrei
voller Misstöne, das man bis in die Nachbarschaft hörte, war wohl auch Ausdruck
ihres Überlebenswillens. Beklemmend, hatten die Streitereien wie eine
stinkende, undefinierbare Masse ihre Spuren im Haus hinterlassen. In Schichtarbeit
ging sie ihrem Job im Altenheim nach. Engagement und die Lust, anderen Menschen
zu helfen, verlagerte sie in ihren Beruf.
In diesem schrecklichen Haus hatte sich jeder mit jedem
verkracht. Das ständig gereizte Klima, Streit wegen Nichtigkeiten, all dies hatte
sich genauso auf die Kinder übertragen. Pubertierend, begehrten sie auf,
protestierten, rebellierten, brüllten ihre Eltern an, gingen notgedrungen in
die Schule, schlossen sich in ihr Kinderzimmer ein, um von alledem nichts
mitzubekommen. Dabei hatte sich auf diesem Schlachtfeld eine Koalition
gebildet: der Vater und die kleine Tochter Anne waren so etwas wie Komplizen,
die selbst einander misstrauten, die aber einte, dass sie ihrer Mutter bzw.
Gattin verabscheuten. Als Mutter hatte
sie Angst, diese letzte Verbindung zu ihrer kleinen Tochter abzuschneiden.
„Hmm, schmeckt.“
„Meine Lasagne schmeckt auch vorzüglich…. „
Beide wohnten am anderen Ende des Ortes, so dass es
geschehen konnte, dass sie sich monatelang im Ortszentrum nicht über den Weg
liefen. Beide waren Ende 40, beide hatten einen Mann plus Kinder, die das
pubertierende Alter überschritten hatten. In ihrem runden Gesicht hatten sich
Falten gebildet, die etwas Geselliges hatten. Ihre roten Wangen leuchteten. Ihr
kurz geschnittenes braunes Haar zeigte Andeutungen von Locken.
„Schön groß die Pizza. Lecker. Schmeckt. Der Rand ist schön
kross.“
„Eigentlich bin ich gar nicht der Pizza-Fan. Pasta, Nudeln,
esse ich lieber. Die Lasagne hier schmeckt besser wie die, die ich zu Hause
mache.“
Die Dunkelheit hatte sich herab gesenkt. Während das matte
Licht aus dem Lampenschirm unter der Decke nur mühselig herab fiel, brannten
weiße, helle Flammen aus den beiden Kerzen.
„Was macht Jessie ?“
Das war ihre große Tochter, die vor einem halben Jahr
volljährig geworden war. Ungefähr mit 15 kleidete sie sich nur noch schwarz,
grelle Schminke, Lidschatten bis unter die Wimpern, Springerstiefel, sie rauchte,
traf sich in der Gothic-Szene, hatte schnell einen Freund, war ständig
unterwegs und sagte nie, wo sie war. Aufsässig wie ihre Schwester, passte sich
zu Hause nicht an, machte, was sie wollte. Der Lärmpegel ihres Geschreis fügte
sich nahtlos in die Streitereien der Eltern ein. Konserativ und an bürgerliches
Aussehen gewöhnt, eskalierte der Streit mit dem Vater permanent. Bis sie auszog
zu ihrem Freund. Daraufhin schaltete die Mutter das Jugendamt ein. Einweisung
in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche, Rückkehr in die Familie, Rausschmiss
durch den Vater, eigene Wohnung.
„Wovon lebt Jessie ?“
„Hat wohl Anspruch auf Hartz IV.“
„Hast Du Kontakt zu ihr ?“
„Nur dann, wenn sie Geld braucht. Das ist häufig der Fall. Eigentlich
zynisch. Auf diese Art sehen wir uns öfter. Ich muss nur aufpassen, dass mein
Mann nichts davon merkt. Er hat mir verboten, ihr Geld zu geben.“
„Schule ?“
„Seit der Oberstufe geht sie nicht mehr ins Gymnasium. Sie
hat aber die mittlere Reife, so dass sie auch auf Ausbildungsplatzsuche gehen
könnte.“
Was dachte sie ? Dass sie gerne ihre Tochter losgelassen
hätte ? – aber nicht auf diese Art und Weise. Dass sie vor einem Scherbenhaufen
stand ? Dass die Hoffnung zuletzt stirbt ? Sie starrte zu der Eingangstür des
Restaurants, wo Gäste das Lokal verließen und wo die Jacken an der Kleidergarderobe
lichter wurden. Sie war gefasst. Wenn es ernst wurde, presste sie die Falten
über ihrem Kinn zusammen.
„Was sie treibt, ist ein Stochern im Nebel. Welche Freunde
sie hat. Wo sie sich den ganzen Tag herum treibt. Längst habe ich keinen
Einfluss mehr. Als ich sie vor drei Wochen gesehen habe, war sie dünn wie ein
Strich. Als sie fünfzehn war, hatte sie schon einmal sehr wenig gegessen. Das
hatte sich aber gebessert. Nun muss sie selbst mit ihrem Essverhalten klar
kommen. Was willst Du machen ?“
Sie hatte aufgegessen, schob ihren Teller beiseite, wischte
sich mit der Serviette den Mund ab. Für einen Moment versteinerten sich ihre
Gesichtszüge, ihre Lippen bissen sich fest, doch dann wanderte ein Lächeln hinüber.
Das langstielige Glas mit der fast schwarzen Farbe des Rotweins zeichnete im
Kerzenschein scharfe Linien. Sie schüttete einen großen Schluck hinunter.
Danach wusste sie nicht mehr, wie ihr zumute war: ob sie lachen oder weinen
sollte, ob sie mit Demut ihr Schicksal ertragen sollte oder ob sie den Aufstand
proben sollte. Sie lebte im Hier und Jetzt. Sie genoss den schönen Abend. Ein
Stück Inseldasein mitten in der Zerstörung. Plötzlich kam sie sich so stabil
vor, dass sie selbst einem Erdbeben hätte stand halten können.
„Letzte Woche rief Jessie mich an, dass ich sie um 8 Uhr auf
ihrem Handy wachklingeln sollte. Um 10 Uhr sollte sie sich beim Tierarzt wegen
einer Praktikumsstelle vorstellen. Aussehen, Kleidung, habe ich ihr noch
gesagt, wie sie sich anziehen solle.“
„Hat geklappt ?“
„Weiß ich nicht. Ich hatte nur ihre Mobilbox dran, als ich
sie auf dem Handy angerufen hatte.“
Ihr war klar, dass der Weg zu Jessie weit und
schwierig war. Immerhin war dies ein weiterer Griff, an sie heran zu kommen. Mit
einem Mal war sie da, diese Hoffnung, dass die Arbeitswelt Jessie eingeholt haben könnte. Dass sie sich dieser Arbeitswelt nicht verweigern
würde. Und dass sich ein Stück Horizont oder Perspektive öffnen würde. Einstweilen
hatte sie zufrieden festgestellt, dass sie in diesem Moment gebraucht wurde.
Die vollkommen geglückte Beschreibung einer Frau, die um ihre soziale Identität und Anerkennung ringt.
AntwortenLöschenToll!
Gruß
Beate
Hallo Dieter
AntwortenLöschenEine alltägliche Familiengeschichte, leider....wer weiss wieviel Familien so leben.
Hab einen schönen Tag
Liebe Grüße
Angelika
Hallo Dieter,
AntwortenLöschenleider wahr, aber so etwas gibt es oft.
Lg
Barbara
Sehr schön und anschaulich wiedergegeben, als ob man ein stiller Mithörer wäre.
AntwortenLöschenLG Arti
So eine Geschichte macht nachdenklich. Ein Silberstreifen am Horizont ist aber doch, dass Jessie sich bei ihrer Mutter gemeldet hat. Vielleicht kommen sie sich ganz langsam wieder näher... sie wird älter und reifer...
AntwortenLöschenLG Marita