Aus einem nüchternen Kasten zog sie eine weiße Karteikarte
heraus, dessen Mitte eine geschwungene Handschrift ausfüllte. Dann nahm sie aus
einem Stapel einen leeren Zettel, zückte einen Bleistift und machte sich
Notizen, nachdem unser Gespräch begonnen war. Später erzählte sie stolz, diese
Zettel hätte eines ihrer Enkelkinder bemalt. Und später zeigte sie uns die
bemalte Rückseite, auf der die langen Striche das Kunstwerk des kleinen
Künstlers noch nicht erkennen ließen.
„Können Sie sich vorstellen, wieso Sie hier sind ?“
„Keine Ahnung ?“
„Ihre Tochter ist nun seit drei Monaten in der Logopädie … „
War dies ein Rätselspiel ? Meine Frau und ich, wir hatten
uns beide innerlich gesträubt. Abgeleitet aus dem griechischen „logos“ für
„Wort“ sah ich bei unserem kleinen Mädchen eher geringe Defizite beim Umgang
mit Wörtern, beim Sprechen oder auch beim Lesen. Doch die Logopädin hatte
darauf bestanden, mit uns beiden ein persönliches Gespräch zu führen.
Bereits zur Kindergartenzeit hatte unser kleines Mädchen
kaum mit anderen Kindern gespielt und war deshalb zur Ergotherapie geschickt
worden. Die Praxis in unserem Ort, die die Ergotherapie durchführte, war
geschlossen worden. Mit den Lernanforderungen in der Grundschule konfrontiert,
hatte uns unser Kinderarzt danach eine Praxis für Logopädie am Stadtrand von
Köln empfohlen.
Vielleicht hatte ich tiefe Skepsis durchdringen lassen. Ich
hatte meine Beine verschränkt und hinterließ, ein wenig zappelnd, womöglich
einen gelangweilten Eindruck. Jedenfalls gab sich die Logopädin sichtlich Mühe,
den Eindruck entstehen zu lassen, sie wolle uns helfen. Unser Kind sei
verhaltensauffällig. In der Schule mache sie einen desinteressierten Eindruck.
Ruhig, still wäre sie im Unterricht, kaum etwas würde sie sagen. Um etwas
fortzuführen und zu beenden, müsse die Lehrerin sie ständig kontrollieren. Wenn
sie gefragt würde, wirke sie altklug, dass sie sowieso alles wisse. Ihre
Aussprache sei undeutlich. Und: ihre intellektuellen Fähigkeiten, welches
Potenzial sie zum Lernen hätte, seien durchaus ausgeprägt. Das konnten wir
bestätigen: zum einen, dass sie nicht unbedingt mit enthusiastischer Begeisterung
in die Schule ging, zum anderen, dass der Lernforschritt in der Grundschule durchaus
vorhanden war.
Ihre menschliche Erfahrung ließ sie durchblicken. Sie habe
auch Kinder – drei Enkelkinder sogar, deren Fotos in einem satten, braunen
Rahmen auf der Fensterbank standen. In ihre glatte Frisur war der übermächtige
Schimmer ergrauten Haares eingedrungen. Deutlich, klar, ihre Worte sorgsam
abwägend, sprach sie zu uns.
Sensorik, Grobmotorik und Feinmotorik, Riechen, Schmecken,
alle Sinnesorgane entwickeln, dazu Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft
entwickeln, das alles gelte es aufzubauen. Und auf ihrem Zettel malte sie uns
ein Modell auf: ein menschlicher Körper, Linien, die die Nervenbahnen
verdeutlichen sollten, Gefühlsströme dazwischen. Anregungen, Impulse brauche
sie im Alltag, mit denen all ihre Sinne „gefüttert“ werden sollten.
„Haben Sie die Übungen mit ihr gemacht ?“
„Die Mundübung ?“
„Die Beinübung ?“
Einmal war ich gemeinsam mit unserem kleinen Mädchen zur
Logopädie gewesen, doch meine Erinnerung an einzelne Übungen hatte ich nur grob
abgespeichert. Es ging um die Koordination von Bewegung und Sprechen – Hüpfen auf
einem großen Ball und gleichzeitig zählen oder Springen auf einem Trampolin
und gleichzeitig Tiere aus dem Zoo benennen. Dass diese Übungen Sinn machen, konnte
ich der Logopädie nicht absprechen. Ich hatte definitiv keine Übungen mit ihr
zu Hause gemacht – meine Frau genauso wenig.
Einmal täglich sollten wir die Übungen mit ihr machen –
Mundübung und Beinübung. Sie solle Verantwortung übernehmen – beispielsweise
den Müll in die Mülltonne bringen, Spülmaschine einräumen oder Tisch decken. Einzelne
Übungen sollten sich über längere Zeit erstrecken – so sollte Ausdauer geübt
werden.
War unser kleines Mädchen das richtige Objekt ? Für eine
Logopädie ? Wenn ärztlicher oder therapeutischer Rat kommt, will man als Eltern
nicht als Verhinderer dastehen. Man will ja auch das beste für sein Kind. Unser
Nicken, die Übungen durchzuführen, quittierte die Logopädin mit einem langsameren,
aber um so ausgiebigeren Nicken. Ich würde unser kleines Mädchen bei diesen
Übungen auch befragen, was sie davon halte, entgegnete ich. Ob die Übungen ihr
gefielen, ob sie ihr gleichgültig waren oder ob sie sie sogar ablehnte.
Geschlagene 90 Minuten verbrachten wir bei der Logopädin. Gegen
halb 9 abends sollten wir erst zu Hause sein. Der Begriff „Zeitfresser“ ging
mir durch den Kopf. Außerdem ging einmal pro Woche die Zeit für 45 Minuten Logopädie
drauf, mit An- und Abfahrt kamen anderthalb Stunden zusammen.
Als wir im Auto saßen, war meine Skepsis wieder da. Grobmotorik,
Feinmotorik, Einsatz aller Sinne, da war wir als Eltern nicht untätig. Wir
hatten durchaus unsere eigenen Konzepte. Klavierunterricht, Schwimmunterricht,
Tanzen, Inline-Skater üben, das hatten wir zwar erwähnt und war auch von der
Logopädin wohlwollend registriert worden, aber kamen wir uns da nicht in die
Quere ? Zeit steht leider nicht unendlich zur Verfügung, und wegen der
Logopädie muss irgendetwas wegfallen, was möglicherweise nicht weniger wichtig
ist. Dabei haben wir unserem kleinen Mädchen einiges zu bieten, was nicht alle
Kinder haben: ein intaktes Familienleben mit zwei Geschwistern, die sich
prächtig mit ihr verstehen.
Meine Skepsis hielt an. Schließlich befand sich die
Logopädie auf einem Spielfeld, wo der Erfolg nicht richtig messbar war. Bis ans
Ende der Zeit konnte also die Aussage nicht widerlegt werden, dass durch die
Logopädie die Verhaltensauffälligkeit unseres kleinen Mädchens verbessert
werden konnte. Egal, welche Übungen gemacht wurden. Und egal, wie viel, wie
häufig, wie intensiv diese Übungen gemacht wurden. Im Auto verspürte ich eine
tiefe Sehnsucht, dass wir gemeinsam mit unserem kleinen Mädchen aus dieser Nummer
wieder heraus kämen.
Irgendwie versteh ich das jetzt nicht, ihr werdet GEZWUNGEN zur Logopädie zu gehen und wisst nicht mal so genau warum? Schließlich liegen ja keine Sprachdefizite vor. Was haben die beschriebenen "Verhaltensauffälligkeiten" mit Logopädie zu tun? Ich kapiers nicht.
AntwortenLöschenWillst du meine Meinung wissen? Da versucht jemand so richtig Geld zu machen und sich zu profilieren. Schützt euer Kind und geht da nicht mehr hin. Da seid ihr fehl am Platz. Außerdem gibt es bei jeder "Normalität" auch Normvarianten. Es sträuben sich mir alle Nackenhaare, wenn ich so etwas lese und kleine Menschen da unbedingt in eine Funktionskorsett gesperrt werden sollen. Wie kommt euer Hausarzt denn zu diesem Rat?
(Wie alt ist euer kleines Mädchen denn eigentlich?)
Ich hatte auch mal richtig Tanz mit der Jugendärztin vom Gesundheitsamt und deren Einschätzung unserer Tochter bei der Einschulungsuntersuchung - bei der sie mal so was von daneben lag. Wäre ich nicht zufällig vom Fach gewesen, hätte ich ihr womöglich geglaubt und das Kind einer Tortur durch die Therapeutenwelt ausgesetzt. So hat eine Dienstaufsichtsbeschwerde ordentlich Wind gemacht. Zum Glück nicht nur für mein Kind.
Ich drücke euch mal die Daumen - aber ich hätte wahrscheinlich einen Brief geschrieben:
Sehr geehrt Frau ..., nach unserem Gespräch sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass Sie unserem Kind nicht DIE Hilfe geben können, die es braucht. Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen und beenden hiermit unsere Zusammenarbeit.
Grüße! N.
Das erinnert mich gleich an zwei Geschichten.
AntwortenLöschenMein Neffe konnte als kleines Kind, ich weiß nicht mehr genau wie alt, sagen wir 5 Jahre, das Wort Quark als einziges nicht ausprechen, sagte Twark. Darauf hin sollte er in die Spachschule gehen. Jedenfalls konnte er später das Wort korrekt aussprechen.
Wir wohnten auf dem Lande. Mein Sohn konnte auch ein paar Wörter nicht richtig aussprechen, die da lauten 1. Kinderzimmer, er sagte Kindemza, das wurde dann von uns später aus so ausgesprochen, auch Wohnza und anderes,
2. in einem Sandmannlied zum Abendgruß heißt es zum Ende ... ehe ich zur Ruhe geh..., er konnte den Sinn nicht erfassen und sagte ... kuage.
Später sprach er einwandfrei, ohne dass er auf eine Sprachschule ging.
Mein Sohn fing schon sehr zeitig mit sprechen an und mit drei Jahren konnte man sich auch als Fremder sehr gut mit ihm in langen Sätzen unterhalten, was kommt es dann auf ein paar noch nicht korrekt gesprochenen Wörter an, so wie sich der Geist entwickelt, wird das auch werden.
Wenn ihr Euch mit euren Kindern in so vielfältiger Weise sportlich und kulturell beschäftigt ist das hundert mal mehr Wert, als zu einer Logopädin in einer abgekapselten Sprechstunde zu gehen.
Ich wünsche Euch allen ein schönes Wochenende mit den Kindern,
liebe Grüße Ulrike
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
AntwortenLöschenSorry, mein erster Kommentar war noch nicht beendet, deshalb das Löschen.
AntwortenLöschenMir kommt das auch so vor, als ob die Logopädin auf Kundenfang ist.
Ich kenne von früher, dass man zum Logopäden ging wenn man lispelte oder Zischlaute beim sprechen machte, oder wenn jemand statt Fisch Fich und statt Tisch Tich gesprochen hat.
Hüpfen und dabei zählen macht doch jedes Kind ganz automatisch...z.B. mit einem Sprungseil, oder mit einem Ball der an eine Wand geworfen wird...dafür braucht man doch keinen Logopäden.
Ich würde da auch unbedingt mal den Kinderarzt oder Hausarzt aufsuchen und um Rat fragen.
LG Zaunwinde
Mich erinnert das auch an etwas - nämlich an den 9jährigen Sohn meiner Freundin, der von den "Gelehrten" je nach Fachdisziplin für hyperaktiv, hochbegabt, legasthenisch oder vom Asperger-Syndrom betroffen gehalten wird...
AntwortenLöschenAlles Liebe aus der Nähe Wiens, Traude
Hallo Dieter,
AntwortenLöschenso ganz werde ich aus deinen Zeilen nicht schlau, vor allen Dingen, was der Grund sein soll, dass eure Tochter zur Logopädin gehen soll. Bei Atemstörungen, Sprachproblemen, Problemen mit der Kaumuskulatur macht Logopädie Sinn, aber ich vermag nicht einzuordnen, welchen Sinn sie bei eurer Tochter machen soll.
Ich würde, wäre ich an eurer Stelle, die Tochter noch einmal einem Kinderarzt vorstellen und um Rat fragen, ob Logopädie wirklich die richtige Therapieform ist.
Liebe Grüße
Christa
Dieter ... dein Text löst bei mir sehr viel aus. Ich war viele Jahre im sozialen Bereich tätig ... und mir kommt das Verhalten der Logopädin so verdammt bekannt vor ... und das Verhalten von dir und deiner Frau auch. Da sind zwischen Eltern und Fachkräften (die Begriffe drücken es ja schon aus) Welten dazwischen. Ich unterstelle mal dass die Logopädin wirklich Gutes will - und ihr wollt ... und tut es ja (schon) auch. Es fehlt das richtige Miteinander - und ich fürchte das fehlt sehr oft. Leider.
AntwortenLöschenIch kann sowohl die Logopädin als auch euch sehr gut verstehen.
lieber Gruß von Heidi-Trollspecht
Vermutl stimmt da etw. nicht und ich finde es gut, dass du/ihr so kritisch bist/ seid. Ihr müsst euch als Eltern/Familie nicht alles von diesen Pädagogen bieten lassen. Frag mal deine Kleine, wie sie die anderen Klassenkameraden und den Unterricht findet... Auch dass du dich über die Übungen mit ihr unterhalten willst, finde ich gut. Weisst, du wenn der Zeitaufwand für euch Eltern zu viel ist und die Kleine sowieso nicht dort hin möchte, würde ich sie einfach abmelden. Ich denke auch, jeder Mensch hat eine individuelle Entwicklung und ihr fördert das kleine Mädchen und sein ordentliche Leute... (mehr privat).
AntwortenLöschenDank fürs Zeigen, und auch für deinen interessierten cmt. Wie gesagt 3 Stunden und nur in der einen Einrichtung, wobei ich fünf Autoren gehört habe. Bei den Künstlern fand ich es klasse, dass kein Mainstream präsentiert wurde und der Erik Steffen hat mir richtig gefallen. Der schreibt sooo schön und mit einer liebevollen Hingabe gegenüber der Randgestalten - das ist wirklich toll. Meinetwegen könnte es alle paar Monate so eine Lange Buchnacht geben, denn ich hätte gerne viel mehr gesehen und gehört, nur kann niemand überall gleichzeitig sein. ;)
☾ °☆
Wochenendgruß für euch, liebe Familie
Wieczorama (◔‿◔) | Mein Fotoblog