Man rutscht da so herein. So wie bei einer dienstlichen Besprechung. Der Termin wird abgearbeitet, man kommt und geht wieder auseinander. Die Gesichter sind austauschbar, das Thema vorgegeben und sinnvoll wäre auch irgendein Ergebnis. Mit dieser inneren Einstellung ließ ich den St. Martins-Zug in Rheidt auf mich zukommen.
16.45 Uhr Treffen auf dem Schulhof. Gegen 16 Uhr stand unsere Kleine mit ihrer Laterne auf dem Flur. Die Laterne, die sie in der Schule gebastelt hatte, war schlecht zusammengeklebt, so dass der kugelförmige Lampenschirm hin- und herbaumelte. Schlimmstenfalls hätte die Laterne durch die brennende Kerze in Flammen aufgehen können. Ich bemerkte dies erst, kurz bevor wir das Haus verließen. Ich war genervt und in einer hastigen Aktion klebten wir den Lampenschirm mit jede Menge Klebstreifen fest. Unserer Kleinen war dies egal. Aus voller Brust sang sie:
Ich geh mit meiner Laterne
Und meine Laterne mit mir
Da unten leuchten die Sterne
Da oben leuchten wir ….
Ich verspürte eine innere Unlust, diesen Termin wahrzunehmen. Zudem sah ich die Adventszeit mit den sich anhäufenden Terminen auf uns zukommen. Zeit würde uns jetzt und in den nächsten Wochen an allen Ecken und Enden fehlen.
St. Martins-Zug. 16:45 Uhr auf dem Schulhof. In diesem Jahr nahm unsere Kleine das erste Mal am St. Martins-Zug durchs Dorf teil, nachdem sie in die 1. Schulklasse eingeschult worden war. Mit der Masse von Kindern glich der Schulhof einem Ameisenhaufen. Trotzdem fand unsere Kleine rasch ihre beste Freundin aus ihrer Schulklasse; ihre Schwester und ihren Vater hatte sie mitgebracht. Die Kinder sammelten sich bei ihren Klassenlehrerinnen, die Schilder mit den Klassenbezeichnungen in die Höhe hielten. Bevor es losging, hielt die Rektorin eine Ansprache, die sie wahrscheinlich im Jahresrhythmus routinemäßig abspulte, was aber im allgemeinen Lärm unterging. Schließlich spielte am Ausgang des Schulhofs eine Musikkapelle, und die Schulklassen setzten sich in chronologischer Reihenfolge vom vierten bis zum ersten Schuljahr in Bewegung.
Im Mittelpunkt stand das St. Martins-Feuer, das hinter dem Werth, einem Rheinarm, in etwa 60 bis 70 Metern Entfernung loderte. Die Kinder bewegten sich in Trippelschritten vorwärts, sie staunten und waren beeindruckt. Von der wohligen Wärme des Feuers ließen sie sich ergreifen. Die Flammen schossen in die Höhe und ergossen sich in den Himmel. Hinter dem Rhein war die Sonne längst abgetaucht, und in der beginnenden Nacht war es so gut wie stockfinster.
Der Zug der Laternen bildete ein ständig wechselndes Farbenspiel. Senkrecht hochgehalten an ihren Holzstöcken, zeigten die Kinder stolz ihre Laternen. Die Papierkugeln mit ihren aufgeklebten Papierstücken schillerten vor Farbenpracht. Das Lichterspiel variierte mit dem Zugweg: am Ende des Rheinarms machten alle Laternen eine Kehrtwendung, dann ging es über den Damm, über dessen hohe Betonmauer der Blick zum Feuer zurückschwenken konnte. Der Zug bog nach rechts in eine Gasse ab, in dessen Verengung das Farbenspiel an Dichte und Glanz gewann. Die Lieder der beiden Musikkapellen rissen nicht ab. Sie spielten: „Ich geh mit meiner Laterne“ … „ Im Schnee da saß ein armer Mann„…. oder „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterrne ….“ Der Zug schob sich durchs Dorf und die meisten Kinder sangen fleißig mit.
Ich war gerührt vor soviel Tradition, die ich ansonsten vermisste: ein Gefühl von Geborgenheit, Gemeinschaft und Geselligkeit, und das zusammen mit all den Kindern. Und an einer Straßenecke zeigte sich schließlich der St. Martin: er war ein gut aussehender Nachfolger des heiligen Martin von Tours, saß rittlings auf seinem Pferd, über seine Hände hatte er weiße Handschuhe übergestreift, silbrig schillerte der Helm auf seinem Kopf. Und sein roter Mantel, den er zu teilen bereit war, hing von seinen schmalen Schultern herunter.
Doch wer gedacht hatte, dass alles vorbei war, nachdem die Kinder in die Schule zurückgekehrt waren und ihren Weckmann bekommen hatten, der sah sich getäuscht. Nun ging erst richtig los. Es wurde geschnorzt. Mit ihrer besten Freundin und ihrer älteren Schwester zog unsere Kleine los. Zuerst war der Pastor an der Reihe, der in diesem Jahr keine selbst gebackenen Plätzchen verteilte, sondern „normale“ Süßigkeiten. „Ich geh mit meiner Laterne …“ sangen sie los, und der Pastor sang voller Begeisterung mit. Danach orientierten sich die Kindern an den Häusern, an denen die Außenbeleuchtung oder andere Lichtquellen brannten – Lichter in Stehlampen oder Tonkürbissen. Unser Rückweg führte quer durchs Dorf, so dass jede Menge St. Martins-Lieder gesungen werden mussten.
Zu Hause angekommen, hatte unsere Kleine einen ganzen Beutel von Süßigkeiten eingesammelt. Gummibärchen, Schokolade, Plätzchen, Lutscher, Bonbons in unterschiedlichen Variationen und Geschmacksrichtungen. Sie schüttete alles auf dem Tisch in unserer Essecke aus und stand staunend davor. War das schön ! Anschließend ging es in Bett, denn nach so einem langen Fußweg war unsere Kleine erschöpft, platt und müde.
Ich musste mir selbst eingestehen, dass ich völlig daneben gelegen hatte, den St. Martin in dieselbe Kategorie geschoben zu haben wie meine dienstlichen Besprechungen. Auch ich brauche etwas bodenständiges und verwurzeltes, nicht nur diesen irrsinnig schnellen Flug unserer Zeit mit diesen Veränderungsprozessen, Anpassungen und Flexibilitäten. Mittendrin brauche ich auch etwas, das bleibt: beispielsweise ein St. Martin – mittlerweile ist er fast 1.700 Jahre alt ….
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen